Paulus
Wenn ich als israelischer Reiseführer christliche Gruppen begleite, steht Jesus im Zentrum. Auf Paulus treffe ich bloß mal oben auf den Golanhöhen, auf dem Weg nach Damaskus, wo Jesus ihm begegnet ist und er eine Wende erlebt hat vom großen Gegner der Christen hin zum Apostel, der das Christentum in die Welt gebracht hat. Hier in Israel war Paulus nie ein großes Thema. Deshalb habe ich ihn bisher vielleicht zu Unrecht ignoriert. Denn Paulus hatte eine Aufgabe von unglaublicher Reichweite …
Wer war Paulus?
Eigentlich wählte Jesus in Cäsarea Philippi Petrus als seinen Nachfolger aus (Matthäus 16). Petrus nahm diese Aufgabe an, doch er blieb ein einfacher Fischer aus Kapernaum: eine Emotionskanone, aber ohne theologische Kenntnisse als Grundlage.
Paulus (damals noch Saulus genannt) war hingegen ein Bürger aus Tarsus in Kleinasien. Er kam nach Israel und studierte sechs Jahre lang unter Rabbi Gamaliel, der vermutlich zur Richtung der Hillel-Pharisäer gehörte, die für ihre gemäßigte Auslegung des jüdischen Gesetzes bekannt war. Saulus bekam also sechs Jahre lang eine tiefe theologische Ausbildung. Später verbrachte er einige Zeit in der Wüste (Galater 1,17-18). Die Wüste war der Ausbildungsort für die Grundgesetze des Alten Testaments, das Gebiet, in dem einst Abraham, Isaak, Jakob und Mose gelebt hatten.
Wie Petrus war auch Saulus voller Leidenschaft – allerdings zunächst für die Verteidigung des jüdischen Glaubens und die Verfolgung der Christen. Dafür machte er sich auf den Weg nach Damaskus. Die Hauptstadt der römischen Provinz Syrien war ein wichtiger Knotenpunkt zwischen Handelsrouten und es gab hier sowohl eine jüdische Gemeinde als auch Christen, die er finden und zur Bestrafung nach Jerusalem bringen lassen wollte. Doch auf dem Weg nach Damaskus begegnete ihm Jesus in einer übernatürlichen Erscheinung aus gleißendem Licht. „Saul, Saul, warum verfolgst du mich?“ fragte Jesus. „Wer bist du, Herr?“, fragte Saulus und die Stimme antwortete: „Ich bin Jesus, den du verfolgst.“ Drei Tage lang war er blind.
Kehrtwende
Einer der Christen in Damaskus war Hananias. Er erlebte ebenfalls eine übernatürliche Erscheinung, in der Jesus ihn zu Saulus schickte – kein Unbekannter für Hananias, denn Saulus war überall für seine Grausamkeit in Jerusalem berüchtigt. Doch Jesus beruhigte Hananias: „Geh nur! Ich habe diesen Mann als mein Werkzeug auserwählt. Er soll mich bei den nichtjüdischen Völkern und ihren Herrschern, aber auch bei den Israeliten bekannt machen. Dabei wird er erfahren, wie viel er um meinetwillen leiden muss.“ Jesus kündigte bereits hier an, was dem bisherigen Christenverfolger in seiner neuen Aufgabe bevorstand.
Hananias vertraute Jesus, suchte Saulus auf, legte ihm die Hände auf:
„Im selben Moment fiel es Saulus wie Schuppen von den Augen, und er konnte wieder sehen. Er stand auf und ließ sich taufen. (…) Gleich nach seiner Taufe begann er, in den Synagogen zu predigen und zu verkünden, dass Jesus der Sohn Gottes ist. Seine Zuhörer waren fassungslos.“
Apostelgeschichte 9,18, 20-21
Neue Aufgabe
Zu dieser Zeit waren die Juden schon über die ganze damalige Welt verstreut: von Ägypten im Süden über die Euphrat- und Tigrisgebiete im Osten bis nach Kleinasien, Griechenland und Rom. Überall ab es jüdische Gemeinden. Hier predigten die Apostel über Jesus – und auch Paulus besuchte auf seinen anschließenden Reisen die Synagogen. Zusammen mit Barnabas kam Paulus nach Antiochien: „Am Sabbat gingen sie dort in die Synagoge und nahmen unter den Gottesdienstbesuchern Platz. Nach der üblichen Lesung aus den Büchern von Mose und den Propheten ließen ihnen die Vorsteher der jüdischen Gemeinde ausrichten: ‚Liebe Brüder, wenn ihr ein ermutigendes Wort weitergeben wollt, dann könnt ihr das jetzt tun!‘“ Woraufhin Paulus ihnen anhand der Geschichte des jüdischen Volkes die Bedeutung von Jesus erklärte (Apostelgeschichte 13,14-15).
Paulus lehrte also in den jüdischen Synagogen. Doch den größten Einfluss damals hatte die griechische, die hellenistische Kultur. Die Juden bildeten bloß ein Bruchteil der damaligen Bevölkerung. Die hellenistische Kultur beschränkte sich nicht auf Griechenland. Obwohl die Römer die Gebiete militärisch besetzten, hatte der Hellenismus das Römische Reich kulturell erobert.
In dieser Kultur die Nachricht von Jesus zu verbreiten – darin lag die große Aufgabe von Paulus! Und wie Jesus es vorausgesehen hatte, musste er dabei sehr viel leiden. Mehrere Jahre lang saß er dafür in Philippi, Jerusalem, Cäsarea und in Rom im Gefängnis.
Griechische Kultur
Um zu verstehen, wie groß und schwierig die Aufgabe war, die Paulus von Jesus bekommen hatte, müssen wir ein paar Worte über die hellenistische Kultur verlieren. Sie war das genaue Gegenteil vom jüdischen Glauben an den einen wahren Gott. In der griechischen Kultur haben Götter die Gestalt von Menschen. Die vielen Götterskulpturen, die überall in Griechenland zu finden waren, erzählten die Geschichte vom Leben der Götter auf dem Berg Olymp.
Götter mit menschlichem Charakter tragen in sich Hass und Liebe, Neid und Brutalität und was immer Menschsein ausmacht. Sie konnten kein Vorbild sein für eine menschliche Moral. Doch während die Götter nach der griechischen Mythologie ewig leben, gelangen Menschen nach ihrem Tod in die düstere Unterwelt des Gottes Hades, wo sie ein Schattenleben führen. Eine Auferstehung gibt es im Hellenismus nicht.
Auch die gesellschaftliche Stellung der Menschen im Hellenismus unterschied sich von der, die Jesus verkündete. Es gab keine persönliche Moral und Verantwortung, sondern wichtig war allein der Status in der Gesellschaft. Die Frage nach einem persönlichen Gewissen gab es nicht. Auch im Alten Testament war die Frage der Stellung entscheidend. Ein Sklave stand unter seinem Herrn. Ein Kind stand unter seinem Vater. Der hebräische Begriff für einen verheirateten Mann bedeutet übersetzt „Besitzer der Frau“. Die Frau hatte keinen freien Willen und alles, was sie tat, konnte sie nur im Namen ihres Mannes tun, dem sie gehörte.
Und in dieser Weltkultur sollte Paulus aufstehen und von Jesus predigen. Christliches Denken stand dabei dem griechischen und dem alttestamentlichen Denken genau entgegen:
„Nun seid ihr alle zu Kindern Gottes geworden, weil ihr durch den Glauben mit Jesus Christus verbunden seid. Ihr gehört zu Christus, denn ihr seid auf seinen Namen getauft. Jetzt ist es nicht mehr wichtig, ob ihr Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, Männer oder Frauen seid: In Jesus Christus seid ihr alle eins.“
Galater 3,28
Die gesellschaftliche Position oder die Stellung im Zusammenleben spielt bei Jesus keine Rolle mehr.
Erneuertes Denken
Sich diesen prägenden Kulturen entgegenzustellen, war fast unmöglich. Es gehörte riesiger Mut dazu, sich der Gefahr auszusetzen, Schläge zu bekommen, im Gefängnis zu landen und all das zu erleiden, das Jesus ihm schon in Damaskus angekündigt hatte. Das ist fast so, als würde ein kleiner Stamm amerikanischer Ureinwohner versuchen, seine indigene Kultur in den USA zu verbreiten.
Paulus forderte Menschen aller Kulturen dazu auf, sich erneuern und verändern zu lassen:
„Passt euch nicht den Maßstäben dieser Welt an, sondern lasst euch von Gott verändern, damit euer ganzes Denken neu ausgerichtet wird. Nur dann könnt ihr beurteilen, was Gottes Wille ist, was gut und vollkommen ist und was ihm gefällt.“
Römer 12,2
Wer in diesem erneuerten Denken mit Jesus verbunden ist, lässt sich vom Heiligen Geist leiten und erlebt Frieden und Leben: „Nun seid ihr nicht länger eurem selbstsüchtigen Wesen ausgeliefert, denn Gottes Geist bestimmt euer Leben – schließlich wohnt er ja in euch! (…) Wenn Christus in euch lebt, dann ist zwar euer Körper wegen der Sünde noch dem Tod ausgeliefert. Doch Gottes Geist schenkt euch ein neues Leben, weil Gott euch angenommen hat.“
In dem Moment, in dem der Heilige Geist im Menschen lebt, wird der Mensch frei. Und damit auch selbst verantwortlich für sein Tun. Nicht mehr die Stellung oder der Vater oder Ehemann entscheiden, sondern jeder ist aufgerufen, sich selbst von Gottes Geist leiten zu lassen und Jesus ähnlicher zu werden.
Paulus hat keine Revolution ausgerufen. Er forderte dazu auf, weiterhin seinen Tätigkeiten nachzugehen, zu arbeiten, die Rolle in der Gesellschaft einzunehmen. Aber nicht als Besitz von einem anderen, sondern frei zum Handeln. Was jeder tut, tut er in seinem eigenen Namen. Der Geist Gottes spricht dabei in unser Gewissen, was Gottes Wille ist.
Kraft der Auferstehung
Der größte Unterschied zur hellenistischen Kultur aber war der Glaube an die Auferstehung. Als Jesus vom Tod auferstanden ist, hat er alle Sünden aller Menschen auf der Erde auf sich genommen. Und am Ende der Tage werden die Glaubenden auferstehen wie Jesus selbst: „Ist der Geist Gottes in euch, so wird Gott, der Jesus Christus von den Toten auferweckt hat, auch euren vergänglichen Körper lebendig machen; sein Geist wohnt ja in euch“ (Römer 8,11). Mit der Kraft dieser Auferstehung konnte Paulus die Gute Nachricht in verschiedenen Kulturen verkünden.
Seine Bedeutung kann man kaum überschätzen. Paulus war nicht nur Vorbild, unermüdlicher Missionar und Gemeindegründer, sondern er prägte auch die theologische Lehre und die Struktur der Gemeinden und er war durch seinen unerschütterlichen Glauben, seine Hingabe an Christus und seine Bereitschaft, für das Evangelium zu leiden, eine große Inspiration für die Gläubigen. Paulus war Begründer des Weltchristentums.
Dany Walter