Familien in der Wüste
Wenn ich als Reiseleiter in Israel mit Christen unterwegs bin, werde ich manchmal nach dem Alten Testament gefragt. Ich höre dann die Kritik, das Alte Testament sei ein grausames Buch. Dabei nennen Christen besonders häufig zwei Stellen aus dem Alten Testament: „Wer einen Menschen schlägt und dabei so schwer verletzt wird, dass er stirbt, muss mit dem Tod bestraft werden“ (2. Mose 21,12). Und: „Auge um Auge, Zahn um Zahn, Knochenbruch um Knochenbruch. Was jemand einem anderen angetan hat, muss ihm selbst zugefügt werden“ (3. Mose 21,20).
Wer nicht den Hintergrund dieser Gesetze kennt, kann sie als Rache missverstehen. Aber schon alte Rabbiner-Texte erklären, dass es vielmehr um Wiedergutmachung geht. Rache bedeutet: Jemand hat einen Schaden angerichtet und wurde dabei erwischt. Dann muss er ins Gefängnis und der Geschädigte ist glücklich, denn der Verbrecher hat seine Strafe bekommen und die Rache wurde erfüllt. Aber was ist mit dem entstandenen Schaden? Wie wird er ersetzt?
Die alttestamentlichen Gesetze hatten ihren Ursprung in der Wüste. Denn sie entstanden zu Zeiten von Abraham, Isaak, Jakob und Moses, die in der Wüste lebten. Viel wichtiger als die Bestrafung von Verbrechern war hier die Frage, wie ein Schaden ausgeglichen wurde, damit eine Familie in der kargen Umgebung weiterleben konnte.
Darum lebte die Wüstengesellschaft in Großfamilien. Eine solche Großfamilie hatte ein Oberhaupt und darunter bis zu fünf Generationen, die füreinander verantwortlich waren, im Guten wie im Schlechten. Stieß einem aus dieser Großfamilie etwas zu, stand die ganze Familie hinter ihm. War ein anderer dafür verantwortlich, setzte sich die ganze Familie dafür ein, dass dieser Schaden ersetzt wurde.
Dafür wiederum wurde nicht nur der Einzelne, sondern die gesamte andere Familie verantwortlich gemacht. Das heißt: Hatte jemand ein Verbrechen begangen, kam er nicht ins Gefängnis zu anderen Kriminellen. Sondern er musste seinem Vater, seinen Onkeln und Cousins ins Auge blicken. Denn der Schaden wurde auf Kosten seiner Familie ersetzt. Die Familien versuchten, so groß und stark wie möglich zu werden, um bei Schäden für Wiedergutmachung zu sorgen. Beispielsweise heiratete man innerhalb der Großfamilie, so wie bei Isaak und Rebekka in Abraham Großfamilie.
Diese Pflicht, als Teil einer Großfamilie den anderen zu helfen, finden wir auch in 1. Mose 14,14-16:
„Als Abram erfuhr, dass sein Neffe verschleppt worden war, bewaffnete er alle kampferprobten Leute (…) und überfiel die Feinde bei Nacht. (…) Das Erbeutete nahm er ihnen wieder ab, darunter auch das Hab und Gut seines Neffen.“
Als ihn anschließend ein beteiligter König wiederum um die Rückgabe seiner Leute bat, antwortete ihm Abram: „Nicht einmal einen Faden oder Schuhriemen behalte ich von dem, was dir gehört!“ Es ging ihm um Rettung und Wiedergutmachung – nicht um Bereicherung.
Manchmal können wir die Bibel besser verstehen, wenn wir das Land und die Kultur kennenlernen, in der sie entstanden ist. Ein guter Grund für eine Reise nach Israel!
Dany Walter
Mit Jesus ging die Geschichte weiter!
Als Christen dürfen wir uns freuen, dass Gott noch einen anderen Plan hatte als „Auge um Auge“. Am Berg Sinai hat Gott mit Mose und dem Volk Israel den ersten Bund geschlossen: Israel sollte ein heiliges Volk sein, das nach Gottes Gesetzen lebte. Aber er hatte noch mehr vor. Jesus wurde Mensch und predigte Gottes Liebe und Gnade. Schließlich nahm er die Sünden aller Menschen mit in den Tod und eröffnete so eine ganz neue Beziehung zu Gott. Der alte Bund war mit Jesus ein für alle Mal erfüllt.
Jesus lehrt einen anderen Weg als das Gesetz. Jesus sagt: „Ihr wisst, dass es heißt: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn.‘ Ich aber sage euch: Verzichtet auf Gegenwehr. Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, halte ihm auch noch die andere Wange hin“ (Matthäus 5,38-39).
„Christus ist das Ende des Gesetzes. Wer an ihn glaubt, wird gerecht gesprochen.“
Römer 10,4