Was Paulus lehrte
In der jüdischen Tradition gibt es eine bekannte Erzählung über die beiden Rabbis Schammai und Hillel. Rabbi Schammai war für seine Strenge und genaue Einhaltung des Gesetzes bekannt, während Rabbi Hillel Geduld und Milde betonte. Der Legende nach kam ein Nichtjude zu Rabbi Schammai und bat, ihm das ganze Judentum zu erklären – und zwar während er auf einem Bein stand. Rabbi Schammai lehnte diese Bitte schroff ab. Daraufhin ging der Nichtjude mit derselben Bitte zu Rabbi Hillel. Dieser antwortete ihm: „Was dir verhasst ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora, alles andere ist Auslegung. Geh und lerne!“
Diese Aussage fasst die Lehre von Rabbi Hillel zusammen und betont die Bedeutung der Nächstenliebe und des ethischen Handelns. Sie erinnert stark an die „Goldene Regel“, die auch Jesus formulierte:
„Behandelt die Menschen stets so, wie ihr von ihnen behandelt werden möchtet. Denn das ist die Botschaft des Gesetzes und der Propheten.“ – Matthäus 7,12
Thora und Wüste
In dieser großen jüdischen Tradition war Paulus ausgebildet. In Apostelgeschichte 22,3 lesen wir, dass er bei Rabbi Gamaliel gelernt hatte, wohl einem Nachfahren von Rabbi Hillel. Um Paulus und seine Lehre zu verstehen, ist es hilfreich, diesen Hintergrund zu kennen. Wir haben ihn vor seiner Begegnung mit Jesus nur als radikalen Christenverfolger vor Augen. Gleichzeitig war ihm aber diese Botschaft der Nächstenliebe nicht fremd.
Neben der Thoraschule hatte Paulus eine weitere Ausbildung genossen: Er hatte das Handwerk als Zeltmacher gelernt. Ob er das lernte, als er eine Weile in der Wüste lebte, wissen wir nicht. Wir erfahren nicht viel über diese Wüstenzeit (Galater 1,15-18). Vermutlich erlebte er die Lebensweise der Beduinen in ihren Zelten mit. Bis heute haben sie durch die klimatischen Verhältnisse bestimmte Sitten und Gewohnheiten.
Wahrscheinlich hat die Zeit in der arabischen Wüste Paulus‘ Lehre tief geprägt, weil es eine Phase des intensiven Gebets und Nachdenkens war, in der ihm Gott Dinge offenbarte und er eine eigene Perspektive entwickeln konnte, unabhängig von den anderen Aposteln. Vielleicht wurde er in dieser Wüstenzeit auch schon auf die Schwierigkeiten vorbereitet, die ihn im missionarischen Dienst erwarteten.
In Damaskus hatte Paulus ein einschneidendes Erlebnis mit Jesus. Gerade hatte er sich die Vollmacht geholt, Christen in Damaskus gefangen nehmen und nach Jerusalem bringen zu lassen, da erschien ihm Jesus in einem gleißenden Licht. Drei Tage war er blind, dann legte ihm Hananias die Hände auf, er konnte wieder sehen, bekam aber auch die Ankündigung, dass er bei seinem Auftrag, Juden wie Nichtjuden von Jesus zu erzählen, viel würde leiden müssen – was im Lauf seines Lebens reichlich eintraf: Er wurde zu Stockschlägen und Steinigungen verurteilt, wurde verhaftet, erlebte Schiffbruch, erlitt Hunger und Durst. Auch diese Erfahrungen werden seine Lehre geprägt haben.
Paulus‘ Lehre
Während seiner zweiten Missionsreise kam Paulus zum ersten Mal nach Europa. Über die Hafenstadt Neapolis gingen er und seine Begleiter nach Philippi, eine Stadt in Mazedonien. Dort trafen sie am Flussufer die Stoffhändlerin Lydia, die aufmerksam lauschte, was Paulus über Jesus zu erzählen hatte. Gott wirkte in ihrem Herzen und ließ sie erkennen, dass Paulus hier die Wahrheit verkündete. Daraufhin ließ sie sich gleich mit allen taufen, die in ihrem Haus lebten (Apostelgeschichte 16). An diesem Ereignis rund um Lydias Lebensveränderung können wir mehrere wichtige Punkte von Paulus‘ Lehre erkennen:
Der Glaube allein
Lydia glaubte, dass die Botschaft über Jesus wahr war, und stellte sich durch ihre Taufe dazu. Das genügte. Das Entscheidende, das wir vorzuweisen haben, ist unser Glaube an Jesus. Es geht nicht mehr darum, das Gesetz zu befolgen oder Gutes zu tun. Wer an Jesus glaubt, ist gerettet – ganz so, wie Paulus es in Römer 5,1 formuliert: „Nachdem wir nun aufgrund des Glaubens bei Gott angenommen sind, haben wir Frieden mit Gott. Das verdanken wir Jesus Christus, unserem Herrn.“ Die Beschneidung der Juden lehnte Paulus ab. Er betont den geistlichen Bund zwischen Gott und Mensch durch die Taufe und den Heiligen Geist.
Die Gnade allein
Von der anderen Seite aus betrachtet, ist das Entscheidende an unserer Rettung Gottes Gnade. Sie muss nicht verdient werden und kann auch durch Werke nicht verdient werden. „Der Herr ließ sie erkennen“, heißt es in dem Bericht über Lydia. In seinem Brief an die Epheser formulierte Paulus es ähnlich:
„Denn nur durch seine unverdiente Güte seid ihr vom Tod gerettet worden. Das ist geschehen, weil ihr an Jesus Christus glaubt. Es ist ein Geschenk Gottes und nicht euer eigenes Werk.“ – Epheser 2,8
Alle sind wichtig
In der hellenistischen Kultur herrschte eine gesellschaftliche Hierarchie, die darüber bestimmte, wie viel man galt und wie man lebte. Für Paulus spielte der Status von Lydia keine Rolle. Er erzählte ihr von Jesus, so wie er überall und jedem davon erzählte. Für Paulus spielten Unterschiede keine Rolle mehr:
„Ihr gehört zu Christus, denn ihr seid auf seinen Namen getauft. Jetzt ist es nicht mehr wichtig, ob ihr Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, Männer oder Frauen seid: In Jesus Christus seid ihr alle eins.“ – Galater 3,28
In Paulus Augen war jeder Gläubige mit seinem Talent und an seiner Position wichtig: Einer kann Musik machen, ein anderer arbeitet als Tischler, eine ist Köchin, eine andere Bäuerin. Eine gesunde Gemeinschaft braucht all diese Fähigkeiten, um zu funktionieren. Paulus verglich das damit, dass in einem Menschen alle Körperteile ihre Aufgabe haben: Die Hand kann nicht ohne den Mund leben, der Magen nicht ohne den Kopf. Alle Positionen sind gleichwertig und gleich wichtig, weil Gott ihn so geschaffen hat (1. Korinther 12).
Neues Leben
Lydia war eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Nun gab es zudem eine Gemeinschaft von Christen in ihrem Haus, in das sie Paulus und seine Begleiter später einlud und die beiden damit unterstützte, bevor sie nach einer Zeit im Gefängnis weiterreisten und ihre missionarischen Aktivitäten fortsetzten. Paulus betont in seinen Briefen immer wieder, dass Gläubige ein neues Leben beginnen. Nicht nur das Denken und Glauben wird verändert, sondern die gesamte Ausrichtung des Lebens: „Wenn also ein Mensch zu Christus gehört, ist er schon ‚neue Schöpfung‘. Was er früher war, ist vorbei; etwas ganz Neues hat begonnen“ (2. Korinther 5,17).
Durch den Geist
Paulus betonte, dass dieses neue Leben vom Heilige Geist bewirkt wird. Der Geist bringt die Frucht hervor wie Liebe, Freude, Friede und Geduld. Der Geist bewirkt Einheit und Gemeinschaft. Und der Geist bewirkt in uns den Glauben: „So macht sein Geist uns im Innersten gewiss, dass wir Kinder Gottes sind“ (Römer 8,16).
Auferstehung der Toten
Während Petrus die Botschaft von Jesus unter den Juden verkündete, kam Paulus hinein in die hellenistische Kultur, die damals die Welt dominierte. Hier gab es keinen Glauben an den einen Gott, sondern eine Vielzahl von Göttern und Göttinnen wurde angebetet. Eine Auferstehung der Toten war hier unbekannt. Menschen kamen nach dem Tod in das Schattenreich Hades. Die Einzigen, die ewig lebten, waren dem Hellenismus zufolge die Götter. In dem, was Paulus lehrte, spielte die Auferstehung von den Toten eine große Rolle: „Wenn wir mit seinem Tod verbunden wurden, dann werden wir auch mit seiner Auferstehung verbunden sein“ (Römer 6,5).
Liebe ist das Höchste
Immer wieder geriet Paulus mit dem hellenistischen Glauben in Konflikt. Er predigte den einen wahren Gott statt einer Vielzahl an Göttern. Er wandte sich gegen den weit verbreiteten Götzendienst, etwa als er den Magier Barjesus blind machte oder eine Sklavin befreite, aus der ein Wahrsagegeist sprach (Apostelgeschichte 13 und 16).
Die letzte Station von Paulus in Griechenland war Korinth. Die Stadt liegt auf dem Übergang zwischen dem Südteil, der Peloponnes, und dem griechischen Festland im Norden. Hier verbrachte Paulus den längsten Zeitraum seiner Reisen: Anderthalb Jahre lang hielt er sich hier auf, arbeitete zusammen mit Aquila, der ebenfalls Zeltmacher war, und verdiente sich damit seinen Lebensunterhalt (Apostelgeschichte 18,1-3), um frei von Jesus predigen zu können.
An die Gemeinde in Korinth schrieb er schließlich einen seiner bekanntesten Texte: Wir kennen ihn heute als das „Hohelied der Liebe“. Statt der Hierarchien und Ungleichheiten im Hellenismus betonte Paulus die Liebe: „Was bleibt, sind Glaube, Hoffnung und Liebe. Von diesen dreien aber ist die Liebe das Größte.“ So brachte Paulus selbst auf den Punkt, was für ihn an der Botschaft von Jesus entscheidend war.
Dany Walter
ist seit vielen Jahren enger Freund und Reiseleiter des Missionswerk Karlsruhe. Er wird auch die Paulus-Erlebnisreise nach Griechenland begleiten.